Am Anfang steht ein Trick. Oder genauer: Gleich mehrere Tricks. Banken, Börsenmakler und Anwälte haben über Jahre dafür gesorgt, dass Aktionären Steuergeld zurückerstattet wurde, das ihnen nicht zustand. In besonders krassen Fällen bekamen die Aktionäre eine Steuer, die nur einmal bezahlt wurde, sogar mehrfach zurück. Die Tricks heißen im Branchenjargon Cum-Cum und Cum-Ex und sie haben nach Informationen von ZEIT ONLINE, der ZEIT und dem ARD-Magazin Panorama dafür gesorgt, dass dem deutschen Staat ein gigantischer Betrag entgangen ist.

Geld, das dem Staat dadurch insgesamt verloren gegangen ist: mindestens 31800000000 (31,8 Milliarden)
Davon Schaden, der durch juristisch umstrittene Steuertricksereien (Cum-Cum) entstanden ist: mindestens 24,6
Mrd. €
Davon durch mutmaßlich organisierte Kriminalität (Cum-Ex): mindestens 7,2
Mrd. €
Personen, die dafür bisher verurteilt wurden: 0

Schon einzelne Banken und Fonds brachten den Staat um Millionenbeträge. Dabei handelten sie Aktien im Kreis – und ließen sich immer wieder neue Steuergutschriften des Staates ausstellen.

Summe, die ein einziger amerikanischer Pensionsfonds vom deutschen Staat auf Grundlage mehrfach ausgestellter Steuerbescheinigungen zurückverlangte: 53882080,94
Zahl der Begünstigten dieses Pensionsfonds: 1
Summe, für die der Fonds dafür kurzfristig deutsche Aktien kaufte: 6400000000 (6,4 Milliarden)

Anzahl der Steuerbescheinigungen, die sich Betrüger für eine einmal gezahlte Steuer ausstellen ließen: Bis zu 10

Die Tricks waren Fachleuten schon früh bekannt – und es gab Warner.

1992 war das Jahr, in dem der Staatskommissar August Schäfer vor solchen Geschäften das erste Mal warnte.
2012 war das Jahr, in dem der Gesetzgeber die Cum-Ex-Geschäfte schließlich unterband.

Zahl der Whistleblower, die währenddessen vor den kriminellen Geschäften warnten: 5

Viele großen Banken haben an den Geschäften mitverdient.

Deutsche Banken, die bei den mutmaßlich kriminellen Geschäften mitgemacht haben: 40
Banken und Fonds weltweit, die sich beteiligt haben sollen: mehr als 100
Geld, das 7 Banken und Fonds bisher zurückgezahlt haben: rund 1000000000 (1 Milliarde)
Anzahl der Verdachtsfälle, die das Bundeszentralamt für Steuern identifiziert hat: 100
Anzahl der Finanzminister, die den Steuerraub in ihrer Amtszeit hätten verhindern können: 4 Theo Waigel (CSU), Oskar Lafontaine (SPD), Hans Eichel (SPD), Peer Steinbrück (SPD)

Was der Staat mit 31,8 Milliarden Euro hätte tun können:

© Sean Gallup/Getty Images

Mehr als ein Jahr lang die Kosten für nach Deutschland gekommene Flüchtlinge ausgleichen. Die Bundesregierung hat in 2017 dafür 21,3 Milliarden Euro eingeplant.

© Miguel Villagran/Getty Images

Rund ein Jahr lang die Leistungen für Hartz-IV-Empfänger verdoppeln. 2016 gab der Staat für die Grundsicherung rund 34 Milliarden Euro aus – ungefähr die gleiche Summe, die durch die Steuertricks verloren gingen.

© Volker Hartmann/Getty Images

1.200 Kilometer Autobahn bauen.

Wie sich der Schaden für den Steuerzahler errechnet

Es ist nicht trivial, den Schaden einzuschätzen, der durch die Finanztricks von Banken, Beratern und Anwälten entstanden ist. Viele der Transaktionen rund um den Dividendenstichtag fanden versteckt statt und sind im Nachhinein schwer nachzuvollziehen. Die Rechnung in dieser Grafik beruht auf Berechnungen des Finanzwissenschaftlers Christoph Spengel von der Universität Mannheim, die sich auf Marktdaten des Informationsdienstleisters Bloomberg und des Wertpapier­abwicklers Clearstream stützt. Dabei gilt es zwischen zwei miteinander verwandten Finanztricks zu unterscheiden: Cum-Cum und Cum-Ex.

Bei Cum-Cum handelt es sich um eine juristisch umstrittene Praxis, bei der eine Bank einem ausländischen Investoren hilft, eine Steuerrückzahlung zu ergattern, auf die dieser keinen Anspruch hat. Grob funktioniert das so: Die Bank verkauft die Aktien ausländischer Kunden kurz vor Auszahlung der Dividende an zum Beispiel einen deutschen Börsenmakler. Nun kann dieser vom Staat eine Steuer zurückfordern, die dem ausländischen Aktionär nicht zugestanden hätte. Nach der Ausschüttung werden die Aktien sofort an den ausländischen Aktionär zurückverkauft. Die zurückgezahlte Steuer wird unter den Beteiligten aufgeteilt. Der Staat wird ärmer.

In den Jahren von 2001 bis 2016 sind dem Steuerzahler durch diese Methode mindestens 24,6 Milliarden Euro entgangen, schätzt Spengel. Pro Jahr sind das rund 1,5 Milliarden Euro.

Wie berechnet sich diese Zahl? Spengel hat in einem ersten Schritt alle Dividendenzahlungen, die in den sechzehn Jahren von deutschen Unternehmen an ausländische Investoren geleistet wurden, auf Basis von Bloomberg-Daten addiert. So kommt er auf rund 311 Milliarden Euro. Geht man von einem Kapitalertragssteuersatz von 15 Prozent aus (wie ihn Deutschland mit rund 80 Ländern vereinbart hat, in den übrigen gilt ein Satz von 25 Prozent) sowie einem Solidaritätszuschlag von 5,5 Prozent, beträgt der mögliche Maximalschaden 49,2 Milliarden Euro. Trifft man dann noch die Annahme, dass jeder zweite Anleger im Ausland die Cum-Cum-Methode auch genutzt hat, ergibt sich der Betrag von 24,6 Milliarden Euro. Spengel hält diese Annahme noch für vorsichtig. "Der überwiegende Teil der ausländischen Anleger sind institutionelle Anleger, also Banken und Fonds", sagt Spengel. "Sie wären schlecht beraten gewesen, die Methode nicht anzuwenden." (Die Einzelheiten der Berechnung finden Sie hier.)

Eine Abwandlung dieses Tricks heißt Cum-Ex. Diese Methode ist weit komplizierter und läuft darauf hinaus, dass eine Steuer einmal bezahlt und zweimal oder noch öfter vom Finanzamt zurückgefordert wird. Der dadurch entstehende Gewinn wird zwischen den einzelnen Teilnehmern des Geschäfts aufgeteilt. (Wie der Trick genau funktioniert, sehen Sie hier.) Die Geschäfte wurden 2012 gesetzlich unterbunden. Spengel schätzt den Schaden für den Steuerzahler auf Basis von Daten des Wertpapier­abwicklers Clearstream. Demnach beträgt er allein für die Jahre 2005 bis 2012 rund 7,2 Milliarden Euro, also im Durchschnitt gut eine Milliarde Euro pro Jahr. "Der Schaden durch Cum-Ex-Geschäfte dürfte insgesamt noch höher liegen, da sie auch schon vor 2005 getätigt wurden", so Spengel. (Die Einzelheiten der Berechnung finden Sie hier.)